Letzens hatte ich eine sehr interessante Verabredung in einem Café gleich ums Eck. Ich traf mich mit einem, der in der Regel von den meisten, ach was sage ich, von allen gemieden und im selben Atemzug gefürchtet wird wie das Weihwasser von Luzifer höchst selbst. Frage nicht. Der Name des Gemiedenen: Graf Dracula. Nein, Blödsinn! Noch weitaus angsteinflößender, mein Kaffeehaustisch-Gegenüber: Monsieur Stillstand, so sein Name. Das ultimative Schreckgespenst unserer Tage. „Brexit“ fast ein laues Mailüftchen dagegen. Ich wollte herausfinden, warum er so unsympathisch rüberkommt, der Herr von und zu Stillstand. Warum er keine Freunde hat, quasi ein Null-Likes-Aussätziger ist. Ob es ihm möglicherweise Freude oder gar Lust bereitet, wenn er die Menschen in Angst und Schrecken versetzen kann. Quasi Sadismusschiene. Weil wenn Stillstand in dein Leben tritt, dann bläst die Panik zur Attacke, dass dir Hören und Sehen vergeht. Wie ich Monsieur Stillstand quasi vis-a-vis und dings und ihm zum Grüß-dich-Gott die Hand gebe und mir dabei auf die Sekunde wie aus heiterem Himmel ein eisiger Schauer der Unheimlichkeit über meinen Buckel bis hinunter zu meinem Muffen-Sausen-Epizentrum läuft, da steht sie still: Die Zeit. Alles quasi auf Zeitlupe. Wie Honig, der zähen Flusses seinen Weg vom Löffel auf dein Brötchen sucht. Matrix-Reloaded zum Anfassen. Die Frau am Nachbartisch führt im Schneckentempo die Espressotasse gen Lippen und nippt genussvoll an diesem italienischen Lebenselixier. Der sonst so nervöse Kellner in Slow-Motion, dass du ihm beim Servieren des Apfelstrudels nach Art des Hauses locker einen Knopf annähen könntest. Entschleunigung quasi ein blassblaues Hilfswörtchen. Irre, denke ich. Nomen est Omen. Herr Stillstand wird seinem Namen absolut gerecht. Stillstand und ich verbleiben aber im Normalmodus.
Monsieur Stillstand: Überall wo ich auftauche, da kriegen die Leute Angst. Um Gottes Willen, der Stillstand, kreischen alle, sind total aus dem Häuschen und laufen herum wie die aufgescheuchten Hühner, wenn der Fuchs in ihren Stall kommt. Oder sie verfallen in eine lähmende Angststarre.
Michael: Ja, viele, die du heimsuchst, werden buchstäblich auch starr und steif, ich sage nur: Herzstillstand. Zack und aus. So schnell kannst du gar nicht schauen, da betrachtest du die Erdäpfel vulgo Kartoffel von unten. Mein lieber Schwan.
Monsieur Stillstand: Ja, das sind die weniger erfreulichen Seiten meiner Arbeit. Aber was soll ich machen, das gehört nun auch mal zu mir.
Michael: Herzstillstände nehmen überhaupt rapide zu. Nicht nur die, die unsere Pumpe betreffen, die anderen Herz-Still-Stände. Bei denen lebt man zwar noch, oft Jahrzehnte lang, ist aber quasi schon tot. Rein innerlich, seelisch und dings. Viele Herzen stehen still, die lassen sich von nichts mehr bewegen. Oder zum Leben erwecken. Hüpfen weder vor Freude, noch pochen sie stürmisch aus Liebe und sie verströmen so gut wie kein Mitgefühl. Quasi immer weniger Herzlichkeit kommt aus den Herzen.
Monsieur Stillstand: Um zu sehen, ob ihr noch am Leben seid, da habe ich andere Ideen. Ich halte kurz die Börsenkurse an, oder die so genannte Wirtschaftskonjunktur, so schnell kannst du gar nicht schauen, wie lebendig da alle wieder sind. Immer wieder ein Spaß, das zu sehen. Hihi! Ich verstehe nicht, warum ihr so einseitige Bilder von mir habt. Überall wo Stillstand, da Ärger, Prostest, Murren, Verzweiflung … Stillstand im Straßenverkehr, sprich Stau: Wutausbrüche. Stillstand vor einer Supermarktkasse: frustrierte Visagen … Es graust euch vor der Stille und dem Stillsein. Keine zehn Minuten haltet ihr es ohne Internet, Fernsehen, Geräusch-Berieselung, Getratsche über andere und so weiter aus. Ich will nur euer guter Freund sein, aber weit und breit keine dieser blöden Likes.
Michael: Selbstmitleid?
Monsieur Stillstand: Ein bisschen.
Michael: Doch nicht so erhaben über den Dingen?
Monsieur Stillstand: Habe ich nie behauptet!
Michael: Wie würdest du dich beschreiben?
Monsieur Stillstand: Warum darüber reden und wie immer alles zerreden. Ein kleines Kennenlernspiel sagt mehr als tausend Worte. Im Stillen Stand dem Stillstand auf die Spur kommen: Suche dir ein ruhiges, stilles Plätzchen und stell dich hin. Schulterbreit. Entspannte Knie. Arme locker hängen lassen. Ruhig ein- und ausatmen. Blick in die Ferne gerichtet, aber nix spezielles fixieren. Das löst dich von deinem Immer-auf-etwas-fixiert-sein-müssen. Steh einfach da und sei einfach da, 10-15 Minuten täglich reichen völlig aus. Beobachte dich, aber urteile nicht. Wie stehe ich da? Aufrecht? Krumm? Vertraue ich meinen Beinen und Füßen, dass sie mich tragen? Schmerzen die Beine? Keine Sorge, das vergeht nach fünf, sechs Mal. Wenn genug neue Kraft in deinem „Fundament“ ist. Worauf habe ich mein Lebensfundament gebaut? Steht es auf Fels oder eher auf Sand? Nach ein oder zwei Wochen wirst du es lieben: Das Still-Stehen. Kein Davonlaufen mehr vor dir selbst. Auch im Alltag kannst du üben. Wie stehe ich zu Situationen, Menschen, Partnerschaften, Entscheidungen … Stillstand ist Fortschritt. Ab und an still zu werden und stehen zu bleiben, Atem holen, seine Gedanken und Gefühle ordnen, Entscheidungen vorbereiten, zu überdenken, möglicherweise zu korrigieren, neue Horizonte entdecken … Das und noch mehr braucht hin und wieder eine gehörige Portion Stillstand.